Gedächtnis

Die Fähigkeit unseres Nervensystems, Informationen aufzunehmen, zu speichern und diese wieder abrufen zu können, wird als Gedächtnis (Mnestik) bezeichnet. Signale, die wir über unsere Sinne (Hören, Sehen, Riechen, Schmecken, Fühlen) wahrnehmen, werden in elektrische Impulse umgewandelt und an zuständige Gehirnareale weitergeleitet. Dabei durchlaufen die Signale drei Gedächtnisspeicher, die jeweils Unterschiedliches zum Ziel haben:
- Ultrakurzzeitgedächtnis (UKG), Ziel: Einspeicherung (Enkodierung)
- Arbeitsgedächtnis (AG), Ziel: Festigung (Konsolidierung)
- Langzeitgedächtnis (LZG), Ziel: Abruf (Recognition)
Entgegen der weit verbreiteten (und teilweise auch bis heute noch in der Literatur falsch wiedergegebenen) Annahme, durchlaufen die Signale nicht linear erst das UKG, dann das AG und schließlich das LZG. Es handelt sich vielmehr um einen interaktiven Prozess, bei dem die Gehirnzellen in den jeweiligen Arealen zeitgleich arbeiten. Daher sprechen wir in diesem Zusammenhang von einem so genannten “Global Workspace”.
Das Zusammenspiel von Ultrakurzzeitgedächtnis (UKG), Arbeitsgedächtnis (AG) und Langzeitgedächtnis (LZG)
Das Ultrakurzzeitgedächtnis besteht aus sensorischen Registern, sodass Gehörtes in einem anderen Register landet als Gesehenes, Gefühltes, Gerochenes oder Geschmecktes. Hier wird innerhalb von 0,5 bis max. 2 sec. entschieden, was mit den eingehenden Signalen passiert, also eine Art Vor-Selektion. Was interessant, spannend oder neu ist, wird an das Arbeitsgedächtnis weitergeleitet. Was uninteressant und langweilig erscheint, wird ohne Weiterleitung entsorgt.
In unserem Arbeitsgedächtnis (AG) können Informationen für mehrere Minuten verweilen, allerdings können nur 7 +/- 2 Informationseinheiten, oder anders ausgedrückt 5 bis 9 Einheiten, gleichzeitig verarbeitet werden. Unser Gefühl, es müssten doch viel mehr Einheiten sein, trügt. Vielmehr ist es ein sehr spannender interaktiver Prozess zwischen den Gedächtnisspeichern, der es uns ermöglicht, auch komplexere Informationen zu verarbeiten: Das Arbeitsgedächtnis leitet also nun zunächst die 5 bis 9 Informationseinheiten an das Langzeitgedächtnis weiter. Da unser Gehirn bereits im Ruhezustand 20% Energie verbraucht, versucht es sich grundsätzlich energiesparend zu verhalten. Um nicht unnötig zu viel Energie aufzuwenden, prüft das Langzeitgedächtnis (LZG) nun, ob es zu den eingegangenen 5 bis 9 Informationseinheiten bereits abgespeicherte Informationen gibt und meldet dies entsprechend an das Arbeitsgedächtnis zurück.
Auf diese Weise ist es dem Langzeitgedächtnis möglich, z. B. einzelne Buchstaben, die für sich betrachtet, einzelne Informationseinheiten darstellen, als bereits zuvor gespeichertes Wort zu identifizieren und diese Information an das Arbeitsgedächtnis zurückzumelden. Daraufhin betrachtet das Arbeitsgedächtnis die einzelnen Buchstaben nicht mehr als einzelne Informationseinheiten, sondern bündelt sie zu einer Informationseinheit zusammen, also komprimiert es die verschiedenen Einheiten zu einer. So ist es uns z. B. auch möglich, uns lange Zahlenkombinationen zu merken: Alle Zahlen einer 11-Stelligen Mobilfunknummer können wir uns nicht merken, da es bereits zu viele Informationseinheiten sind. Werden die Zahlen hingegen in kleinere Einheiten gebündelt, also z. B. 0279 – 77 22 234 (statt 02797722234), stellt es für uns keine große Herausforderung mehr dar, uns diese Nummer zu merken, da es sich nur noch um 4 Informationseinheiten handelt, statt 11. Doch wie gelingt es nun, dass bestimmte Informationen nicht nur für kurze Zeit verfügbar sind, sondern möglichst lange im Langzeitgedächtnis erhalten bleiben?
Der wesentliche Unterschied zwischen den Gedächtnisspeichern liegt darin, dass das, was im Ultrakurzzeit- und im Arbeitsgedächtnis passiert, eine zeitliche befristete Aktivität unseres Gehirns darstellt, während das, was im Langzeitgedächtnis passiert, einer Strukturverändeurng gleicht, da hier tatsächlich physische Veränderungen stattfinden.
Die vorübergehende Aktivierung im Ultrakurzzeit- und im Arbeitsgedächtnis bewirken eine Strukturveränderung im Langzeitgedächtnis. Damit sich diese Strukturveränderung nicht wieder zurückbildet, ist es erforderlich, das Gelernte zu wiederholen und anzuwenden oder (was noch viel einfacher ist) unser neuronales Netzwerk regelmäßig zu aktivieren. Hierfür reicht es aus, sich jeden Tag für kurze Zeit einen kleinen Ausschnitt des Gelernten anzuschauen. Andernfalls werden bereits nach 24 Stunden geschaffenen Verbindungen wieder sukzessive abgebaut.
FAQs
1. Welche Ausnahmen gibt es, bei denen sich dieser Vorgang anders darstellt?
Es gibt einige wenige Ausnahmen, bei dem der hier beschrieben Vorgang abweicht. Um dies besser nachvollziehen zu können, ist es wichtig zu wissen, dass sich das menschliche Gedächtnis grob in zwei Systeme aufteilen lässt: ein deklaratives (explizites) und ein nichtdeklaratives (implizites).
Das deklarative Gedächtnis enthält bewusst gelernte und abrufbare Fakten. Wir bezeichnen sie auch als Fähigkeiten.
Das nichtdeklarative Gedächtnis enthält unbewusste Verknüpfungen und Fertigkeiten. Hierzu zählen automatisierte Abläufe, wie z. B. das Schuhe binden, Fahrrad und Auto fahren oder schwimmen: Sobald wir die Abläufe automatisiert haben, brauchen wir diese nicht mehr bewusst zu kontrollieren. Es ist also möglich, dass einst explizit Gelerntes ins implizite Gedächtnis übergeht. Dies gilt vor allem für Bewegungskoordinationen. Ist dies erfolgt, brauchen wir unser neuronales Netzwerk nicht mehr zu aktivieren, um sicherzustellen, dass die geschaffenen Verbindungen nicht wieder abgebaut werden. Einmal gelernte Fertigkeiten wie das Fahrrad fahren, werden uns auch in Zukunft gelingen, obwohl wir vielleicht jahrelang nicht mehr auf einem Fahrrad gesessen sind.
Daher ist es wichtig, im Gehirn ablaufende Abläufe zu verstehen, zwischen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu unterscheiden sowie entsprechende Vorgänge im Sinne eines erfolgreichen Lernprozesses zu berücksichtigen.
2. Welche Rolle spielen Erinnerungen in unserem Leben?
Erinnerungen spielen eine wichtige Rolle in unserem Leben. Sie ermöglichen es uns, unsere Identität und unser Selbstbild zu konstruieren und zu erhalten. Erinnerungen können auch unsere Entscheidungen, Gefühle und Verhaltensweisen beeinflussen. Darüber hinaus können Erinnerungen auch ein wichtiger Aspekt der sozialen Interaktion sein, da sie es uns ermöglichen, uns mit anderen Menschen auszutauschen und unsere Erfahrungen zu teilen.
3. Wie beeinflussen Emotionen das Gedächtnis?
Emotionen spielen eine wichtige Rolle bei der Speicherung und dem Abruf von Erinnerungen. Emotionale Ereignisse werden oft besser im Gedächtnis behalten als neutrale Ereignisse. Darüber hinaus können Emotionen auch zu Verzerrungen führen. Zum Beispiel können negative Emotionen dazu führen, dass wir uns an bestimmte Ereignisse oder Details besser erinnern als an positive Ereignisse oder Details.
4. Sind Erinnerungen immer zuverlässig?
Nein, Erinnerungen sind nicht immer zuverlässig. Sie können durch verschiedene Faktoren verändert und verzerrt werden, wie z.B. durch Emotionen, Überzeugungen, Erfahrungen.
5. Wie kommt es, dass die selbe Situation von Menschen unterschiedlich abgespeichert und erinnert wird?
Diverse Faktoren, wie z. B. Emotionen, das individuelle Erleben, Bewertungen, persönliche Wirklichkeitskonstruktionen und selektive Wahrnehmung, haben Einfluss darauf, ob und wie bestimmte Informationen in unserem Gedächtnis abgespeichert werden. Das ist auch der Grund, warum z. B. Zeugenaussagen vor Gericht so unterschiedlich ausfallen können, auch wenn die Personen faktisch das selbe gesehen haben. Das bedeutet oft nicht, dass sie bewusst eine Falschaussage treffen bzw. lügen – sie sind überzeugt davon, dass sie den Tathergang wahrheitsgetreu wiedergeben (aber eben so, wie sich die Wahrheit für sie darstellt).
6. Lassen sich ungewünschte Erinnerungen, wie z. B. ein traumatisches Erlebnis, löschen?
Das Gedächtnis vergisst nichts, das eine Relevanz für uns hat. Ein traumatisches Erlebnis zählt dazu. Solche Erinnerungen lassen sich nicht löschen. Allerdings können wir ungewünschte, schmerzhafte Erinnerungen mit neuen positiven Erfahrungen überlagern. Je öfter wir uns z. B. in vergleichbare Situationen begeben, in denen wir neue positive Erfahrungen sammeln, desto mehr rückt für uns die schlechte Erfahrung in den Hintergrund. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass irgendein Ereignis wieder zu einem Flashback führt, doch wenn ich weiß, wie ich damit umgehen kann, wird es mir möglich, in eine bewusste Steuerung zu gehen und Selbstwirksamkeit herzustellen.